„Abschied in 36 Stunden“ – Ein Interview über eine der intensivsten Beerdigungen, die ich je begleiten durfte
- Lina spricht
- vor 4 Tagen
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Ein Erfahrungsbericht aus meiner Arbeit als freie, humanistische Rednerin
Frage:Â Lina, wie hat alles begonnen?
Lina: Am Montagabend klingelte mein Telefon. Eine gute Freundin des Verstorbenen war dran. Ihre Stimme war brüchig. Sie sagte, die Familie sei völlig überwältigt vom Tod ihres Sohnes – und die Beerdigung müsse bereits am Mittwoch stattfinden.
Im ersten Moment war ich wie betäubt. Der Gedanke, in weniger als eineinhalb Tagen Trauergespräche zu führen, eine persönliche Rede zu schreiben und all dem gerecht zu werden, hat mir Angst gemacht. Ich habe mich hingesetzt, tief durchgeatmet und 15 Minuten lang überlegt: Ist das überhaupt machbar?
„Ich wollte nicht, dass dieser Abschied ohne Worte bleibt“
Frage:Â Was hat dich trotz des Zeitdrucks dazu bewogen, zuzusagen?
Lina: Es war Empathie. In solchen Momenten stelle ich mir vor, wie es mir ergehen würde. Und ich kann niemanden in so einer Situation im Stich lassen. Die Eltern waren nicht in der Nähe, der Bruder ebenfalls nicht – alles musste online stattfinden, was ich nicht ideal finde. Und dann wollten die Eltern lieber Englisch sprechen. Aber alle waren so verzweifelt. Der Gedanke, dass der Abschied ohne Worte bleiben könnte, hat mir das Herz zusammengeschnürt.
„Ich suche nach dem Kern eines Menschen – auch zwischen den Zeilen“
Frage: Wie lernst du jemanden kennen, den du nie persönlich getroffen hast?
Lina: Ich lasse die Menschen zuerst einfach reden. Wer war er? Was hat ihn ausgemacht? Oft steht die Trauer klar im Vordergrund, aber mit einfühlsamen Fragen kommen diese kleinen, kostbaren Geschichten zum Vorschein. In diesem Fall war es berührend: Alle – unabhängig voneinander – haben ihn Sonnenschein genannt. Als Rednerin höre ich bei solchen Worten besonders hin. Ich achte darauf, wann jemand inne hält, wie Erinnerungen über das Gesicht huschen. Online ist das schwieriger. Man spürt weniger, was zwischen den Worten passiert. Aber auch da gibt es Momente, in denen man merkt: Jetzt öffnet sich jemand.
„Ich spreche nie von einem höheren Plan. Ich spreche vom Leben.“
Frage: Was bedeutet für dich eine humanistische Trauerfeier?
Lina: Ich habe der Familie sofort gesagt, dass ich keinen Bezug zu einem höheren Wesen herstellen werde. Es wäre scheinheilig, wenn so etwas aus meinem Mund käme. Ich schaue lieber auf das Leben, auf das, was ein Mensch für andere war und bleibt. Eine humanistische Trauerfeier richtet den Blick auf das Menschliche: auf Liebe, Wärme, Gemeinsamkeit. Als freie und humanistische Rednerin hat man meist eine gemischte Gruppe vor sich. Einige sind sehr gläubig und haben feste Erwartungen an das, was ich sagen werde. Andere wissen noch gar nicht, was sie erwartet und wieder andere waren leider schon bei so mancher freier Verabschiedung dabei. Mir ist es sehr wichtig, dass alle etwas mitnehmen können. Trost entsteht im Hier und Jetzt. Nicht im Jenseits.
Wenn danach jemand aus der Trauerfeier auf mich zukommt und mir sagt, dass er bisher nur kirchlichen Beerdigungen erlebt hat aber diese hier so viel persönlicher und schöner war, dann weiss ich, dass ich den Angehörigen gut zugehört habe.
„In der Halle war die Trauer fast greifbar – aber auch ein Lächeln“
Frage: Wie war die Abschiedsfeier selbst für dich?
Lina: Ich war sehr fokussiert, wie immer vor einer Rede. Aber ich war auch erleichtert, als ich während meiner Worte ab und zu ein trauriges Lächeln gesehen habe – sogar bei den Eltern. Dann wusste ich: Die Bilder, die ich male, berühren etwas. Vorab hatte ich auch gefragt, ob es Symbole gibt, die ich vermeiden sollte, da der Verstorbene aus einem anderen Kulturkreis kam. Ich habe eine grosse Kerze entzündet – Licht und Sonnenschein waren zentrale Elemente seiner Geschichte. Ein Moment hat mich besonders berührt: Als die Mutter am Ende der Feier schluchzend in meine Arme gefallen ist und immer wieder „Thank you“ gesagt hat. Da war so viel Schmerz – aber auch so viel Dankbarkeit. Da gefasst zu bleiben war wirklich schwierig.
„Es ist sinnstiftend, aber auch emotional fordernd“
Frage: Wie hältst du es aus, wenn dich die Gefühle so direkt erreichen?
Lina: Es gibt einen kleinen Trick. Wenn die Tränen kommen wollen – und bei so viel rohem Schmerz passiert das – drücke ich meine Zunge fest hinter die oberen Schneidezähne und atme. Es hilft, den Moment zu halten. Aber klar: Wenn eine Mutter ihre eigene Mutter am Sarg ihres Kindes in die Arme schliesst und der Schmerz laut durch die Halle geht, dann steht man kurz neben sich. Doch genau in diesen Momenten bin ich da, ruhig, gefasst, als Anker. Für einen Augenblick gebe ich Halt, den alle verloren haben. Nach der Feier brauche ich Zeit für mich: spazieren, mit dem Hund raus, frische Luft. Und danach etwas Schönes mit meiner Familie. Es hilft mir, die Trauer dort zu lassen, wo sie hingehört – bei den Menschen, denen sie gehört.
„Echte Anteilnahme braucht keine Religion“
Frage: Was nimmst du aus dieser Begleitung für dich mit?
Lina: Ich habe erneut gesehen, dass echter Trost keine Religion braucht. Dass Menschen sich verabschieden können – im Leben, im Hier und Jetzt, mit ehrlichen Worten und einem offenen Herzen. Es war eine der intensivsten Begleitungen, die ich je hatte. Nicht nur wegen der Kurzfristigkeit. Einen so jungen Menschen beerdigen zu müssen fühlt sich einfach falsch an. Aber es hat mich darin bestärkt, was ich tue: Ich stelle den Menschen in den Mittelpunkt. Seine Geschichte. Seine Spuren. Sein Licht. Darum mache ich diese Arbeit. Und darum werde ich sie weitermachen.
